Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Alfred Döblins Zürich

Schauplatz

«Die sanfte Stadt war ausgegossen über Hügel an einem sonnenblitzenden See. Hier blieb Konrad und vergaß ein paar Wochen den Tod. Abends konnte er von Zollikon, wo er wohnte, oder von den hohen Straßen vom Zürichberg her das bunte Lichtergewimmel um den See, die Hügel hinauf weit nach Winterthur sehen. Manchmal kam ihm vor: Ich bin krank. Dann wieder wußte er: Nicht ich bin krank, sondern diese Welt.
Die Bahnhofstraße mit den feinen Geschäften, den kolossalen Bankhäusern. Es kam der liebliche See. Die weiche Herrlichkeit der Hügel, Wiesen und Dörfer tanzte vor ihm. Wenn das der Tod ist, so hat er sich schön geputzt, dann ist er ein großer listiger, lieber Täuscher, er gönnt uns etwas, wir müssen ihm danken.»

Alfred Döblin: Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall (1934)

Zu Roman und Autor

Marduk hat seine Zeit verschlafen, sein Reich liegt in Trümmern. Und so steigt der «babylonisch-chaldäisch-assyrische Gott» herab und unternimmt eine Reise, die ihn von Babylon, Bagdad, Konstantinopel über Zürich nach Paris führt und dabei mitten hinein in die Menschenwelt. Als Marduk – der auf Erden den unverfänglicheren Namen Konrad trägt – in Zürich ankommt (Zitat), winkt ein erotisches Abenteuer. Mit dem «zarten Fräulein» Barbara geht er eine Affäre ein, aus der eine Schwangerschaft resultiert. Doch der Abschied ist unumgänglich: «Zaghaft, demütig gab er ihr die Hand. Sie fragte, ob sie ihn gekränkt habe, oder bin ich jetzt schlecht geworden. 'Nicht doch', murmelte Konrad. Dann war sie es, die sich an seine Brust legte und ihre Arme um ihn schlang.» Der Gott zieht weiter nach Paris und Barbara reist zu ihrem Verlobten.
Alfred Döblin floh am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichtagsbrand, aus Deutschland in die Schweiz – der Jude und Sozialist wurde gerade noch rechtzeitig vor seiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt. Zunächst liess er sich in einer überfüllten Studentenpension am Zürichberg nieder. An Arbeiten war unter diesen Umständen nicht zu denken und so zog sich Döblin in den Lesesaal der Zürcher Zentralbibliothek zurück, wo er alle wichtigen Nachschlagewerke zur Hand hatte. Unerkannt sass der Autor von «Berlin Alexanderplatz» (1929) zwischen Studierenden und Dozierenden und füllte Blatt um Blatt.
Mit der verrückten Geschichte von Marduk/Konrad überblendete Döblin seine eigenen Erfahrungen der Emigration: «Es wurde mir erst beim Schreiben dieser babylonischen Wandrung klar: es war das Gefühl meiner eigenen verlorenen Situation», hielt er später fest. Das Exil taucht im Narrenkleid auf, abstruse Missverständnisse, heiterer Surrealismus und Situationskomik prägen den witzigsten Roman Döblins, der in einer Zeit entstand, als die Grundfesten seiner Existenz erschüttert wurden. Aus Zürich schrieb er an einen Freund: «Eine große Hälfte ist überwunden, ich bin in Konstantinopel, und je nach dem Ort, an dem ich lande (ich meine real), wird das Buch enden in Berlin, Zürich, Paris, London, Straßburg. 75% stehen auf Paris.» Und tatsächlich: Im August zog Döblin – wie Marduk/Konrad – weiter nach Paris und vollendete den Roman in der Bibliothèque Nationale. (BP)

© KEYSTONE
Zum Ort

Zürich ist mit rund 400'000 Einwohnern die grösste und mächtigste Stadt der Schweiz. Die grössten Banken und Versicherungen haben ihren Sitz hier, die Börse SIX (Swiss Exchange), die internationalen Organisation von Fussball (FIFA) und Eishockey (IIHF), die wichtigsten Industrieverbände. Wie in anderen Schweizer Städten, liegt der Anteil ausländischer Einwohner bei über 30 Prozent. Zürich versteht sich als internationale Grosstadt und wirbt als «Erlebnismetropole am Wasser» mit einem bunten Nachtleben und über 50 Museen. Zürich war eine treibende Kraft bei der Entstehung der modernen Schweiz. Im 19. Jahrhunderts war es Zufluchtsort deutscher Liberaler und das Zentrum der wirtschaftlich-politischen Elite («Zürcher Freisinn»), später wiederholt Brenn- und Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen. Eine spezielle Zürcher Tradition ist das «Sechseläuten» im April, ein Umzug der kostümierten Zunftmitglieder (ausschliesslich Männer – Frauen stehen am Strassenrand) und das abschliessende Verbrennen des «Böögg», der den Winter personifiziert. Anfang August zieht die «Street Parade» mit House und Techno eine Million Feiernde in die Stadt.