Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Elias Canettis Rütli

Schauplatz

«Den Sommer zuvor waren wir in Seelisberg gewesen, auf einer Terrasse hoch über dem Urnersee. Da stiegen wir oft mit ihr durch den Wald zur Rütliwiese hinunter, anfangs Wilhelm Tell zu Ehren, aber sehr bald, um die stark duftenden Zyklamen zu pflücken, deren Geruch sie liebte. Blumen, die nicht dufteten, sah sie nicht, es war, als ob sie nicht existierten, umso heftiger war ihre Passion für Maiglöckchen, Hyazinthen, Zyklamen und Rosen. (...) Von der Rütliwiese aber war sie hingerissen: ‹Kein Wunder, daß die Schweiz hier entstanden ist! Unter diesem Zyklamengeruch hätte ich alles geschworen. Die haben schon gewußt, was sie verteidigen. Für diesen Duft wäre ich bereit, mein Leben hinzugeben.›»

Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977)

Zu Buch und Autor

Elias Canettis Mutter Mathilde, die eine ebenso ungewöhnliche wie originelle Begründung für die Entstehung der Schweiz liefert, ging sogar noch einen Schritt weiter: «Plötzlich gestand sie, dass ihr am ‹Wilhelm Tell› immer etwas gefehlt habe. Nun wisse sie, was es sei: Der Geruch. Ich wandte ein, dass damals vielleicht noch keine Waldzyklamen da waren. ‹Natürlich waren sie da. Sonst gäbe es doch die Schweiz nicht. Hier, hier war es, und dieser Geruch hat ihnen die Kraft zum Schwur gegeben.›»
Im ersten Band seiner Autobiografie wird Elias Canetti (1905-1994) zum Chronisten seiner eigenen Kindheit. Geboren in der bulgarischen Stadt Rustschuk, zog Canetti mit seiner Familie bald weiter nach Manchester. Nach dem frühen Tod des Vaters liess sich die junge Witwe mit drei kleinen Söhnen zunächst in Wien, dann in Zürich nieder, beide Male in eher bescheidenen Verhältnissen. Im Sommer 1918 logierte die Familie im «Grand Hotel Seelisberg» mit Blick auf den Urnersee und die Mythen bei Schwyz. Der Aufenthalt an der noblen Adresse musste sein, denn manchmal, wenigstens in den Ferien, müsse man so leben, wie es einem gemäss sei, erklärte die Mutter.
Canetti selbst war dreizehn beim Besuch des Rütli. Wohl mag er sich damals und bei der Niederschrift seiner Kindheitschronik seine Gedanken über den Ort des eidgenössischen Gründungsmythos gemacht haben, denn mit seiner eigenen Zuordnung zu einer Nationalität verhält es sich schwierig: «Ich bin allerdings kein Österreicher. Meine Eltern sind spaniolische Juden, geboren bin ich in Rustschuk, Bulgarien. Ich habe in vielen Ländern Europas gelebt, nun lebe ich in London und Zürich, halte mich jedoch für einen österreichischen Schriftsteller, denn die Figuren meiner Werke sind meistens Wiener und sogar der Wiener Dialekt überwiegt in meinen Theaterstücken.» Dem Pass nach war er britischer Staatsbürger. Und Deutsch war nicht seine Muttersprache, er hat sich diese Sprache in seiner Kindheit angeeignet, ja buchstäblich errungen, wie Schriftstellerkollege Jean Améry meint. 1981 ist er mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt worden.
Canetti liegt auf dem Zürcher Friedhof Fluntern begraben, ganz in der Nähe von James Jocye. (BP)

© KEYSTONE
Zum Ort

«Anfang August» 1291 schworen irgendwo am Vierwaldstättersee Vertreter der drei Gemeinschaften Uri, Schwyz und Unterwalden sich gegenseitig Beistand und Schutz. Daraus entstanden die Schweizerische Eidgenossenschaft und Schillers «Wilhelm Tell». Ob der – verbriefte – Schwur wirklich auf der einsamen Rütliwiese am Westufer des Urner Sees getan wurde, steht nur dort. Als 1859 Pläne für einen Hotelbau ruchbar wurden, sammelte die «Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft» Geld für den Kauf der fünf Hektaren Land. Seither ist das Rütli eine Art nationaler Wallfahrtsort. Es ist nur per Schiff oder zu Fuss erreichbar.