Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Henning Boëtius' Bern

Schauplatz

«Als ich total übermüdet in der Schweizer Hauptstadt ankam, in dieser grau-grünen Meerstadt ohne Meer, die so geträumt anmutet, dass man sie leicht für eine Illusion halten kann, war mein erster Eindruck, hier könnten überhaupt keine Verbrechen, zumindest keine grausamen, geschehen. Überall gedeckte Farben, milde Grau- und Grüntöne, sanftes Rot. Alles von unspektakulärer Eleganz. Selbst die Penner schienen modischer gekleidet als anderswo, und die Punker wirkten wie geschmacklos arrangierte Schaufensterpuppen. Eine Welt, die den nostalgischen Eindruck einer vergilbten Illustration aus einem alten Baedeker macht. Auch der Himmel passte sich an mit ein paar elefantengrauen Regenwolken vor einem Hintergrund aus blauem Satin. Und als die ersten dezenten Regentropfen fielen, begriff ich, dass man trotzdem nicht nass werden musste, dank der alle Straßenzüge begleitenden Arkaden, in deren Halbdunkel sich kleine Geschäft voller kreativ dekorierter Kostbarkeiten aneinander reihten.»

Henning Boëtius: Rom kann sehr heiß sein (2002)

© KEYSTONE
Zu Roman und Autor

Dale ist verschwunden. Ausgerechnet in Bern, wo die Schottin einen Sprachkurs besuchen wollte, verliert sich ihre Spur. Piet Hieronymus, ein kauziger niederländischer Ermittler, reist seiner Geliebten voller böser Vorahnungen in die Schweizer Bundeshauptstadt nach. Wer Boëtius' Roman liest, bekommt nicht nur Krimihandlung vom Feinsten geboten, sondern – über mehrere Kapitel – zugleich ein ebenso poetisches wie nuanciertes Porträt Berns. Für die Auflösung des Falls wird der Schauplatz gewechselt, der zweite Teil spielt in Rom und löst damit auch die Ankündigung im Romantitel ein.
Henning Boëtius (geb. 1939) ist promovierter Germanist und war sechs «unglückliche Jahre lang» im Freien Deutschen Hochstift Redaktionsleiter der grossen historisch-kritischen Brentano-Ausgabe. «Dann wurde ich fristlos entlassen, hatte eine Frau, drei Kinder und keinen Führerschein», fasst Boëtius seinen Absturz aus dem germanistischen Olymp zusammen. Die Suche nach Alternativen war lang: Hausmann, Hausmeister, Strassenmusiker, Reisender und schliesslich unveröffentlichter Schriftsteller. Erst als ihn der Verleger Vito von Eichborn entdeckte, gelang es ihm, eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. Über seine Handlungsorte sagt er, sie müssen ihm fremd sein. Das glaubt man sofort, wenn man seine Berner Schilderungen liest, von der Universitätsbibliothek über die Arkaden bis zu den Wohnungen betuchter Berner Familien. Wer Boëtius' ebenso präzise wie schwebende Stimmungsbilder gelesen hat, hat das unbedingte Bedürfnis, beim nächsten Bern-Besuch sehr viel genauer hinzuzuschauen. (BP)

Zum Ort

Früher war Bern, mit rund 130'000 Einwohnern die viertgrösste Stadt der Schweiz,  eine Macht – im 15. Jahrhundert eine europäische und bis zur Zerschlagung der alten Eidgenossenschaft eine schweizerische. Die heutigen Kantone Waadt und Jura gehörten dazu, und Söldnerregimenter des bernischen Adels waren am französischen Hof gefragt. Aus dieser Geschichte nähren sich ein Selbstbewusstsein und eine Gelassenheit, welche Politik und Gesellschaft durchziehen. Die gesamte, in einer Aareschleife gelegene Berner Altstadt ist als UNESCO-Weltkulturerbe denkmalgeschützt. Charakteristisch sind die Lauben, insgesamt 6 Kilometer Arkaden entlang der Altstadtgassen. Seit 1848 ist Bern Sitz von Regierung und Parlament der Schweiz – nicht Hauptstadt, sondern «Bundesstadt». Sehenswert ist das spätgotische Münster. Sportlichen empfiehlt sich ein Bad in der reissenden, gelegentlichen etwas frischen Aare.