Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Jens Steiners Genf

Schauplatz

«Meistens gingen sie in den Park bei der alten Uni, zu den Schachspielern. Aus der Ferne wirkte der Haufen wie ein stummer Basar: in lockeren, beweglichen Kreisen standen Männer an den schwarz-weiß karierten Spielfeldern, manchmal scherte einer aus, ein anderer füllte die Lücke. Das Denken in den Händen, in den nervösen Füßen, im gezähmten Tigergang. Ein Panoptikum des Stillstands und der kleinen Reste von Menschenwürde. Emma und Werner stellten sich ebenfalls hin, schauten den Männern zu. Werner zappelig tänzelnd, Emma hinter ihm, manchmal sein Schwänzchen im Nacken kraulend.
Und dann die Banksitzer daneben, meist Alte in fleckigen Anzügen, Zeitung lesend. Die Zeitung gab den Alten Halt, gab ihnen ihren Anteil an der Menschenwürde – das große Format, die Druckerschwärze, die die Finger verfärbte, und die Lektüre: Beirut, Bonn, Bhopal, Hurrikan in Alabama, Hinrichtung in Hangzhou. Emma und Werner sagten ‹Bonjour› und die Bankmänner hoben den Blick, sagten nichts oder zischten die Bälger weg.»

Jens Steiner: Hasenleben (2011)

 

© KEYSTONE
Zu Buch und Autor

Ein Leben im Zickzacklauf: Fast täglich streifen Emma und ihr kleiner Bruder Werner durch Genf, alleine, denn ihre Mutter Lili überlässt die beiden sich selbst, während sie kellnert, sich mit den Behörden streitet und die Nächte durchtanzt. Die Kinder spielen währenddessen ihr eigenes Spiel im Stadtraum: «Haken schlagen, zielstrebig ankommen und gleich weitergehen.» Der Parc de Bastion wird zum regelmässigen Aufenthaltsort der Geschwister. Ein anderer ist die Wohnung der alten Madame Latroche, mit den Elefantenbeinen in Stützstrümpfen: «Tür, Spalt, Gesicht, Bonjour. Und ihre Liebe zog die beiden hinein in die stickige Wohnung. Sie bekamen zu essen, sie bekamen Fotos gezeigt und vor allem den ununterbrochenen Redefluss der Dame zu hören.» Madame stirbt bald darauf einen stillen, diskreten Tod. Aber Werner und Emma haben immer noch den Schlüssel bei sich und lauschen ab und zu an der verschlossenen Tür. Doch dann ist es mit dem Aufenthalt in Genf auch schon vorbei, das «Hasenschema» setzt sich fort: «Und irgendwo schlüpften eine Hasenmutter und ihre zwei Jungen wieder mal in einen Gully, zogen von unten den schweren Deckel übers Loch. ... Irgendwo würden sie wieder ins Licht steigen. Und auspacken und neu anfangen. Immer wieder.»
Jens Steiner wurde 1975 in Zürich geboren. Sein Erstling schaffte es auf Anhieb auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. 2013 wurde der Autor für seinen zweiten Roman «Carambole» mit dem Schweizer Buchpreis geehrt. (BP)

 

Zum Ort

Genf, die Stadt Calvins, der privaten Bankiers, des Roten Kreuzes, des Völkerbunds, der UNO und neuerdings auch des globalen Rohstoffhandels, war lange auf seine Selbständigkeit bedacht und kam erst 1815 zur Eidgenossenschaft. Höhepunkt im lokalen Kalender ist die «Escalade» in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember, wenn in der Altstadt die erfolgreiche Abwehr eines Angriffs aus dem Savoyischen gefeiert wird. Heldin jener Nacht war die wackere Mère Royaume, die einen Eindringling mittels einer Eisenpfanne voll heisser Suppe zur Strecke gebracht haben soll. Zum Gedenken werden Kochtöpfe aus Schokolade zerschlagen, begleitet vom Ruf «ainsi périssent les ennemis de la république».