Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Jörg Steiners «Brandmoos»

Schauplatz

«Eine einzige Armbewegung, und wir standen, zum Appell bereit, am Kopfende des Bettes.
Nur einer fehlte: Uelu.
Der Verwalter schritt die Reihen ab, betastete Roth, ließ den nackten Zinu vortreten und blieb vor Uelus Bett stehen.
Plötzlich packte er das Federkissen, trug es hinaus in den Korridor und warf es mit einem furchtbaren Schwung die Treppe hinunter vor Lehmanns Tür.
Negus sagte laut: ‹Da steckt Uelu drin.›
Auch der Verwalter starrte auf das Bündel; es zuckte hin und her und blieb still.
‹Er hat sich jeden Abend verkrochen›, sagte Negus, ‹aus Angst.›
Schaltenbrand trieb uns in den Schlafsaal zurück; doch hörten wir anderntags, Uelu habe nicht geblutet.
‹Vielleicht doch, aus der Nase›, sagte Negus. ‹Erinnere dich, wie wir die Kaninchen töteten.›»

Jörg Steiner: Strafarbeit (1962)

Zu Buch und Autor

Eine beklemmende Atmosphäre aus Angst, Gewalt und Unterdrückung schafft Jörg Steiner in seinem Romanerstling «Strafarbeit» (1962), der sich um die fiktive Erziehungsanstalt Brandmoos dreht, irgendwo im schweizerischen Mittelland. Ein Zögling kommt sogar zu Tode (Zitat). Im Zentrum steht ein Insasse, Vulkan genannt, der die Geschichte seiner Flucht in zwei verschiedenen Versionen erzählt. Zu den grossartigsten Passagen gehört jene, in der er mit einem Hund im nahen See schwimmt: «Auf einmal hatte ich in meinen Beinen das Gefühl der Freiheit. – Jetzt wurde im Brandmoos gegessen, die Jungen sammelten sich im Korridor, Gruber prüfte ihre Hände auf Sauberkeit. (...). Aber Vulkan war auf hoher See, eine Wellenreiter, ihr Landratten.»
Jörg Steiner starb 2013 dreiundachtzigjährig in seiner Heimatstadt Biel, wo er – abgesehen von längeren Aufenthalten, unter anderem in den USA und in Ostafrika – bis zuletzt lebte. In vielen seiner Werke lässt sich dieser langjährige Wohn- und Arbeitsort erahnen, kaum je benannt, aber immer gegenwärtig. Er habe, so Peter von Matt, den sozialen Querschnitt dieser Schweizer Industriestadt dargestellt.  Steiner verfasste über 30 Bücher. (BP)

 

© Staatsarchiv des Kanton Bern
Zum Ort

Zürich, Adelboden, Langenthal werden erwähnt, aber die Erziehungsanstalt Brandmoos, der Hauptschauplatz, ist eine Erfindung –  vielleicht gar nicht fern von Friedrich Glausers psychiatrischer Anstalt «Randlingen». Wo ungefähr müsste man sich Brandmoos denken? Mehrfach wird ein nahegelegener See geschildert, für den der Bielersee Modell gestanden haben könnte. Für die Brandmoos-Fiktionen (neben «Strafarbeit» gehören auch «Ein Messer für den ehrlichen Finder», 1966, und «Das Netz zerreissen»,1982, dazu) dürfte auch das Erziehungsheim in Aarwangen eine entscheidende Inspirationsquelle gewesen sein: Jörg Steiner hat dort ab 1953 als Lehrer für Schwererziehbare gearbeitet (unser Bild zeigt eine historische Aufnahme des Speisesaals). Kurz: Brandmoos, das ist eine jener so präzisen wie letztlich unverortbaren Schauplatzschöpfungen der Schweizer Literatur. Steiner hat – vermutlich — ein bestehendes Gebäude aus Aarwangen und ein existierendes Gewässer im Seeland vor Augen gehabt. Und aus diesen beiden Elementen etwas völlig Neues geschaffen, das so nur in der Literatur vorkommen kann.