Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Lisa Elsässers Schächental

Schauplatz

«Mein Spiel, mein eigenes, gehütetes Geheimnis in diesem Sommer, hatte mit dem Holzsteg zu tun. Er war das Tor ins Dorf, ins Tal, ins Elternhaus. Zweimal die Woche musste ich im Dorfladen Brot holen. Jedes Mal reihte ich einen Stein ans Ufer. Zweimal die Woche mal zwölf Wochen: Vierundzwanzig Steine, jeder begrub ein Stück Heimweh unter sich, denn jeder Stein mehr war ein Stein weniger. Jeder verschlug ein paar Tage. Mir war nie mehr schwindlig. Ich liebte diesen Bach.»

Lisa Elässer: Wo Berge sich erheben (2011 – aus dem Erzählband «Die Finten der Liebe»)

© Anne-Kathrin Weber
Zu Erzählung und Autorin

Ein kleines Mädchen, vielleicht acht, neun Jahre alt sitzt neben der Mutter in einem der legendären gelben Schweizer Postautos. Doch geniessen kann es die Fahrt nicht. «Im Hals das stecken gebliebene Aufbegehren, das sich anfühlte wie ein wachsendes Ungeheuer. Im Postauto, nach vielen Straßenkurven, sagte die Mutter: Du bist weißer als die Bluse. Ich erbrach das Ungeheuer, die durchsäuerte Morgenmilch, die Brotbrocken, in einen hellbraunen, alten Papiersack, aus dem Reste von altem Kartoffelstaub aufwirbelten.» Die Kleine wird, gegen ihren Willen zum Onkel auf eine Alp, ganz hinten im Schächental, gebracht. Dort heisst es während eines langen Sommers mit anpacken, im Haushalt und im Stall. Als das Mädchen einmal die Flucht wagt, barfuss das ganze Tal hinunterrennend, zurück ins Elternhaus, da wird es umgehend ins nächste Postauto gesetzt. Das Heimweh brennt weiter. Und um ihm beizukommen, ersinnt das Mädchen wirksame Strategien (Zitat).
Lisa Elsässer (Jg. 1951), gebürtige Schächentalerin, schreibt über das, was sie von Grund auf kennt, woran sie sich glasklar erinnert und was sie nun in knapper, präziser und sehr bewegender Form zu Literatur macht. Ähnlich wie Meinrad Inglin gelingt es ihr, ihren Herkunftsort in eine reiche «Topografie der Fiktion» zu verwandeln  – und wir können dieser Verwandlung von Welt in Text nachspüren, Schritt für Schritt. Der Erzählband «Die Finten der Liebe» ist Abnabelung vom und Liebeserklärung an das Schächental in einem. Und die Texte sind sogar ganz ausdrücklich dem Urner Bergtal gewidmet.
Elsässer hat verschiedene Ausbildungen (unter anderem zur Buchhändlerin/Bibliothekarin) absolviert, ehe sie sich ganz dem freien Schreiben zuwandte. 2005 bis 2008 hat sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Sie veröffentlicht Gedichte und Prosa. (BP)

Zum Ort

Das Schächental ist ein touristischer Glanzpunkt im Urnerland, reich an Attraktionen: Gleich am Eingang liegt das Dorf Bürglen, der Geburtsort von Wilhelm Tell, wenn man den Sagen und Friedrich Schiller glauben will... Der Schächentalerhöhenweg gehört zu den absoluten Wanderklassikern der Schweiz: Auf der Sonnenseite des Tales gelangt man zu den markanten Windgällen und weiter bis auf den Klausenpass, wo einen ein nostalgisches Hotel erwartet. Wer den Schauplatz von Lisa Elsässers Geschichte besuchen möchte, liegt im Umkreis der Alp Äsch richtig. Ab Unterschächen ist sie immer entlang dem Wildbach Schächen in einer guten Stunde zu erreichen – sattgrüne Matten, eine Handvoll Hütten und Ställe, eine Kapelle und, als wäre das der Idylle nicht genug, ein Wasserfall, der sich malerisch über eine hundert Meter hohe Fluh stürzt. (BP)