Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Lisa Tetzners Verzascatal

Schauplatz

«Manchmal musste er auf Händen und Füssen gehen. (...) Unter sich sah er die kochenden und tosenden Wasser der Verzasca. Sie rauschten wie ein Meer, und die Wellen schlugen gegen die Felsen, als wollten sie alles zertrümmern.»

Lisa Tetzner: Die schwarzen Brüder (1940/41)

Zu Buch und Autorin

«Wenn ich nun in Mailand sterbe, Nonna?», hatte Giorgio beim Abschied gefragt. Bereits die mehrtätige Fussreise erweist sich als lebensgefährlich. Doch Giorgio überlebt und wird in Mailand als Kaminfegerjunge verkauft. Täglich muss er in Kamine steigen, in welchen der Russ «wie ein Bach» über ihn stürzt. Er wird gedemütigt und kriegt kaum zu essen. Besonders die kalten Wintertage lassen in ihm die Erinnerungsbilder an sein geliebtes Sonogno im Verzascatal innerlich aufleben. Denn «es war nicht der Winter, den Giorgio aus dem Verzascatal kannte. In Sonogno war es auch kalt, überall lag Schnee, und in allen Schluchten, Höhlen und Felsen hingen die blitzenden, schweren Eiszapfen. Aber dann blieb man bei den Kühen oder in der Küche. Es gab mittags eine dampfende, warme Suppe und abends ein lustiges Feuer. Die Nonna erzählte Geschichten, und sie sassen um den warmen Kamin (...). Der Winter in Mailand war ganz anders. Giorgio und der Meister gingen weiter bei jedem Wetter durch die Strassen und riefen ihr: 'Spazzacamino! Wir fegen Kamine!', 'Die Kaminfeger sind da!' (...). Der Wind jagte ihnen einmal Staub und das andere Mal Schnee ins Gesicht.»
Es sind die Freundschaften zu den anderen Kaminfegerjungen, die Gemeinschaft der «schwarzen Brüder» und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr ins Valle Verzasca, die Giorgio am Leben halten.
Auch die in Deutschland geborene Autorin des beliebten Werks, dessen geschilderte Ungerechtigkeiten unzählige Kindergemüter bewegt haben, lebte lange Zeit im Tessin. Für Lisa Tetzner (1894-1963) und ihren politisch aktiven Mann Kurt Kläber (1897-1959) wurde Carona aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung zum schützenden Ort. Kurt Kläber, der unter dem Pseudonym Kurt Held Werke wie «Die rote Zora» verfasste, hat auch die von Tetzner begonnene wahre Geschichte um den kleinen Tessiner zu Ende geschrieben. Der in zwei Bänden erschienene Jugendroman wurde kürzlich vom Schweizer Regisseur Xavier Koller verfilmt. (MT)

 

 

© KEYSTONE
Zum Ort

Das Valle Verzasca, ein 25 Kilometer langes Bergtal nördlich des Lago Maggiore im Tessin, ist beliebt für Wanderungen und Flussbäder. Von Natur aus arm, war das Tal über Jahrhunderte ein Auswanderergebiet. Talbewohner zogen bis nach Süditalien, Frankreich und Belgien, ab 1850 auch nach Australien und Kalifornien. In der Lombardei und in Ligurien waren Emigranten aus dem Verzascatal als Schleifer, im Piemont als Kaminfeger tätig. Heutige Einnahmequellen sind Handwerk, Viehzucht und Tourismus. An der Staumauer am Lago di Vogorno verschafft ein 220-Meter-Bungeesprung in die Tiefe 7.5 Sekunden extremen Adrenalin-Kick.