Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Thomas Bernhards Zizers

Schauplatz

«Ich habe alles für sie getan, mich für sie aufgeopfert und sie ließ mich stehen, ganz einfach zurück, läuft diesem neureichen Subjekt in die Schweiz nach, diesem grauenhaften Charakter, hat Wertheimer gesagt, dachte ich im Gasthaus. Ausgerechnet nach Chur, in diese fürchterliche Gegend, in welcher der Katholizismus tatsächlich zum Himmel stinkt. Zizers, was für ein scheußlicher Ortsname! hat er ausgerufen und mich gefragt, ob ich jemals in Zizers gewesen sei und ich erinnerte mich, daß ich mehrere Male auf dem Weg nach Sankt Moritz durch Zizers gekommen bin, dachte ich. Stumpfsinn, Klöster und Chemiekonzerne, sonst nichts, sagte er.»

Thomas Bernhard: Der Untergeher (1983)

Zu Roman und Autor

Wertheimer, der «alles für sie», das heisst, seine Schwester, getan zu haben glaubt, ist ein Jugendfreund des Ich-Erzählers. Gemeinsam mit dem kanadischen Klaviervirtuosen Glenn Gould haben die beiden in Salzburg Klavier studiert. Um Glenn Gould geht es aber in dem Buch nur in zweiter Linie, denn der titelgebende «Untergeher» ist Wertheimer, dessen Ambitionen auf eine Pianistenkarriere angesichts der Virtuosität des Kanadiers verblassen. Glenn Gould spielt beide, Wertheimer und den Ich-Erzähler, an die Wand, und diese beschliessen darauf, ihre Träume an den Nagel zu hängen. Während dem Ich-Erzähler eine Neuorientierung gelingt, versinkt Wertheimer in Depressionen und terrorisiert seine Schwester. Als diese schliesslich Reissaus nimmt und sich in eine Ehe in die Schweiz flüchtet, trifft der Zorn Wertheimers nicht nur sie und ihren Mann, sondern gleichermassen auch Chur und Zizers – für Bernhard Anlass, Hass-Kaskaden, die sich sonst oft auf Österreich richten, hier auch etwas über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen:
«Auf dem Höhepunkt der Verhätschelung ist sie davongelaufen, so er, ist sie davongelaufen, nach Zizers bei Chur, in diese entsetzliche Gegend. (...). Ausgerechnet nach Zizers, in diese perverse Wortschöpfung! so er, dachte ich.» Später nimmt Wertheimer perfide Rache: «Er hat sich eine Fahrkarte nach Zizers bei Chur gelöst und ist nach Zizers gefahren und hat sich hundert Schritte vor dem Haus seiner Schwester aufgehängt.» Um an der Beerdigung teilzunehmen, reist nun auch der namenlose Erzähler nach Chur. Doch trotz der starken Präsenz von Zizers und Chur, der eigentliche Schauplatz des Romans ist ein ganzer anderer: Reflektiert, geordnet und kommentiert wird das alles – das Salzburger Klavierstudium, Wertheimers Wahn, sein Selbstmord – von einem schmuddeligen Gasthaus in Wankham, Oberösterreich aus. Dort macht der Erzähler Station, um ein letztes Mal das Jagdhaus Wertheimers zu besuchen. (NP)

© Wikimedia Commons/Adrian Michael
Zum Ort

Zizers ist in fünfzehn Minuten ab Chur erreichbar, in der Nähe liegen die Burgen Marschlins und Falkenstein, es gibt Rebberge, ein mildes Klima und kaum Nebel. Übrigens: Die selbstbewussten Churer und Churerinnen nehmen das Bernhardsche Chur- und Zizers-Bashing mit Humor: Der Tourismus-Direktor selbst hat zur Erheiterung auf Empfängen schon aus dem «Untergeher» vorgelesen, etwa diese Passage hier: «In den Churer Weinstuben schenkten sie den schlechtesten Wein aus und trugen die geschmacklosesten Würste auf. (…) Ich hatte es immer als Bestrafung empfunden, mit den Eltern, manchmal auch nur mit dem Vater alleine, nach Sankt Moritz fahren zu müssen, in Chur Station zu machen».