Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Giovanni Orellis Pedrinate

Schauplatz

«So überschritten sie in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1983 in aller Gemütsruhe, oder, um es mit Erasmus zu sagen, der Grenzen verabscheute, gradatim, paulatim, pedentim die Grenze. Ihr müsst allerdings wissen, meine lieben Kinder, dass Pedrinate ein kleines Dorf ist, wo die Mutter von Rotkäppchen zu Hause sein könnte. Pedrinate ist der Name des südlichsten Dorfes der Schweiz. Es grenzt an Italien. Ganz nah bei Chiasso. Wie einige Lokalzeitungen berichteten (wir werden uns hier an die ‹Gazzetta Ticinese› vom 2. Juni 1983 halten), und wie ein Brief der Gemeinde Chiasso vom 17. Oktober 1989 bestätigt, ereignete sich in Pedrinate eine ‹illegale Einreise›. In der Nacht vom 29. auf den 30. Mai also, mitten im blühenden Frühling, ‹überschritten von Italien her 4 junge Kühe (weibliche Jungrinder) und 2 junge Stiere die Grenze›.»

Giovanni Orelli: Walaceks Traum (1991, italienischer Originaltitel: Il sogno di Walacek)

Zu Buch und Autor

Der Roman «Walaceks Traum» ist ein poetisches Spiel um zwei Namen. Einerseits geht es um den Fussballer Eugène «Genia» Walacek, den Sohn eines Tschechen und einer Schweizerin, der in der schweizerischen Nationalmannschaft von 1938 als Stürmer spielte; andererseits um den Maler Paul Klee, der im April 1938 auf einer Sportseite der «Nationalzeitung» das Bild «Alphabet 1» gemalt hat, auf dem der Name des Fussballers verstümmelt zu erkennen ist.
Diese charmante Verbindung zwischen Fussball und Kunst ist für Orelli so etwas wie das Flämmchen an der Zündschnur, sie lässt ein Feuerwerk an Einfällen, Anekdoten, Querverbindungen und Einsichten explodieren. Der Roman ist ein Mosaik der Geschichte unseres Landes und Europas (die Hitler- und Mussolini-Epochen eingeschlossen). Es ist schier unglaublich, was Orelli alles recherchiert und dazuerfunden hat. In vielen Fällen liesse sich der Anteil von Fakt und Fiktion nur durch aufwendige weitere Recherchen bestimmen. Die Fortsetzung der Geschichte um die unfolgsamen Kühe von Pedrinate liest sich zum Beispiel so: «(...) ‹vier Kühe (muhhh, muhhhhh) und zwei Jungstiere, ansässig in Pare (Italien), wurden auf den Feldern von Pedrinate (Schweiz) angetroffen, wo sie mit Lust Rebentriebe und verschiedene andere Kulturen abweideten› (die Hervorhebungen stammen von dem Schreiber O/17360, um zu unterstreichen, dass mit Ansässige gewöhnlich die geduldeten und in der Wirtschaft begehrten Grenzgänger bezeichnet werden (...). Der Artikel schließt mit der Bemerkung: ‹Man staunt doch über den absoluten Mangel an Kontrolle in der Region› (...).»
«Il sogno di Walacek» ist 1991 im renommierten Turiner Verlag Einaudi erschienen, erst achtzehn Jahre später ist eine deutsche Übersetzung dieses Meisterwerks greifbar, das anlässlich der Siebenhundertjahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft entstanden ist. Es zeigt «eine Schweiz zwischen 1930 und 1950, als wäre es die von morgen.» (Roman Bucheli). Giovanni Orelli (geb. 1928), von vielen als Doyen der Tessiner Literaten bezeichnet, studierte in Mailand und Zürich und war Lehrer in Lugano, wo er auch heute noch lebt. (BP)

© KEYSTONE
Zum Ort

Pedrinate gehört zur Tessiner Grenzgemeinde Chiasso, einem der wichtigsten Grenzübergänge der Schweiz und vielen Touristen aus Staumeldungen am Radio bekannt. Am Hang auf der Südseite der grossen Verkehrsadern liegt das Dörfchen, das im umliegenden Wald den südlichsten Punkt der Schweiz aufweist. Er kann erwandert werden. Ein Holzschild mit der Aufschrift «Punto estremo sud della svizzera» und ein von einem Pfeil durchbohrter hölzerner Apfel – Stichwort Wilhelm Tell – markieren die Stelle.