Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Jeremias Gotthelfs «Unverstand»

Schauplatz

«Es war fast wie an einem Markttag. Man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück; fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt. Ein Vater, der vier Kinder brachte, rief dieselben aus und jeden Vorübergehenden herzu, um ihm eines oder das andere aufzudringen; er machte es ärger als die Weckenfrau an ihrem Korbe mit ihrer Ware.»

Jeremias Gotthelf: Der Bauernspiegel, oder, Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben (1837)

Zu Buch und Autor

«Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand in einem Jahr, welches man nicht zählte nach Christus.» Mit diesem durchaus wörtlich gemeinten Protestruf beginnt Gotthelf 1837 nicht nur seinen ersten Roman, sondern in gewisser Weise auch den deutschsprachigen Realismus überhaupt. Der mittlerweile 40-jährige Pfarrer Albert Bitzius schreibt unter dem Pseudonym Jeremias («Mias») Gotthelf eine fiktive Autobiografie in fiktivem Raum über allzu reale Missstände im langen 19. Jahrhundert – nämlich die Geschichte eines Verdingbuben, der in einer lieblosen Gemeinschaft, eben, auf «Unverstand» stösst und daran zerbricht. Das Dorf steht für die Schattenseite der Schweiz zu Gotthelfs Zeiten, für «das Schlimme […], welches dennoch auch da ist.»
Selbst Pfarrer und Schulkommissär, weiss Bitzius um die Lebensgeschichten jener Kinder, die als Leibeigene verkauft und auf Bauernhöfen schonungslos ausgebeutet wurden, er weiss um den Alkoholismus, um die häusliche Gewalt, um das korrupte Beamtentum. Oder wie Franz Hohler es einmal sagte: Der Bauernspiegel ist eine «unerbittliche Satire auf jene, die in der damaligen landwirtschaftlichen Welt das Sagen hatten. Auf das gnadenlose Unterdrücken der Ärmeren, die ohne Chance blieben, je irgendwie hochzukommen.»
Albert Bitzius, Pfarrersohn und selbst ebenfalls reformierter Pfarrer, wird unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf zu einem der bedeutendsten Volksschriftsteller der Schweiz im 19. Jahrhundert, einen «Shakespeare des Dorflebens» hat man ihn genannt. Interessanterweise haben seine Bücher zu Lebzeiten mehr Anerkennung in Deutschland als in der Schweiz gefunden. (AB)

© Gotthelfzentrum, Lützelflüh
Zum Ort

Die Gemeinde «Unverstand» gibt es nicht. Gotthelf wollte, ähnlich wie später Keller mit seinen Seldwyler Novellen, nicht mit dem Finger auf ein bestimmtes Dorf zeigen, denn die Missstände, die er anprangerte, waren weit verbreitet. Wo also hinreisen, wenn man sich mit Gotthelfs Welt befassen will? Natürlich ins Emmental, genauer nach Lützelflüh. Im dortigen Pfarrhaus (unser Bild) hat Gotthelf von 1831-1854 gelebt und geschrieben. Heute enthält es eine wunderbare Ausstellung in den Originalräumen.